Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Menschen in Europa“ der Mediengruppe Bayern diskutierten am vergangenen Mittwochabend namhafte Gäste, darunter Dr. Navid Kermani, Prof. Michel Friedman und Prof. Ursula Münch, zur hochaktuellen Thematik des gesellschaftlichen Wertewandels.
„Werte sollen uns zusammenhalten. Sie sind das Fundament, geben Vertrauen und Orientierung, sind aber nicht aus Zement.“ Mit diesen Worten eröffnete Andrea Rieder, Chefredakteurin der Mittelbayerischen Zeitung einen Abend, der mit seinem Ausgang auf politischer Ebene nicht näher am Diskussionsthema hätte liegen können. Die Ampelkoalition platzt und mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten erhält die aktuelle globale Situation, die bereits von tiefgreifenden Krisen, Unsicherheit und Ängsten geprägt ist, erneut Brisanz – und damit auch der Themenkomplex „Gesellschaft und Werte im Wandel“, der im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion stand. Vor einem regen Austausch über autoritäre Bewegungen und geostrategische Bedrohungen erfuhr das Publikum jedoch einen „Perspektivwechsel“, der es, so Rieder, „ganz weit wegführen soll“.
Diese andere Perspektive lenkte den Fokus auf die Hungerkatastrophe in Madagaskar – eine humanitäre Krise, die Navid Kermanis Auffassung zufolge viel zu wenig Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit erhält und somit stark in den Hintergrund gerät. Mit einer Lesung aus seinem neuen Buch „In die andere Richtung jetzt“, schilderte der Schriftsteller und Orientalist eindrucksvoll Erlebnisse sowie Erkenntnisse, gewonnen auf seiner Ostafrika-Reise. Kermani erzählt vom Süden Madagaskars, ein Land gebeutelt vom Kolonialismus, gezeichnet von Hungertoten und gefährdet durch den Klimawandel. Die Gier, so erfährt Kermani auf seiner Reise, lässt den Mensch das Meer abfischen – wir sind es, die das Korallenriff zerstören. Weiter noch: Die Kultur eines Landes, wie Musik, Feste und Feierlichkeiten, geht mit dem gegenwärtigen Mangel an Wasser zurück. Eine ungenügende, zentralisierende Verteilung von Gütern und finanziellen Mitteln, befördert ein eigentlich so reiches Land mit vielen Ressourcen und unglaublicher Artenvielfalt in eine tiefgreifende Hungerkrise – Navid Kermani portraitiert damit eine Katastrophe, die es nicht in den weltweit-öffentlichen Diskurs schafft. Er konstatiert: „Je mehr unsere Welt verflochten ist, umso weniger wollen wir davon wissen“ – eine Feststellung, die die Podiumsdiskussion im weiteren Verlauf des Abends prägte.
Moderatorin Natalie Amiri interessierte sich zunächst für Dinge, die die Teilnehmer der Diskussionsrunde in einer derart unsicheren Weltlage zuversichtlich machen. Prof. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, bezog sich in ihrer Antwort sogleich auf die Veranstaltung selbst: „Es macht mich zuversichtlich, dass heute so viele Menschen gekommen sind“. Stark persönlicher Natur ist die Reaktion des Philosophen und Juristen Prof. Michel Friedman. Als Sohn jüdischer Eltern, die die Shoah überlebt haben, wodurch er überhaupt erst auf die Welt kommen konnte, liegt seine Hoffnung in einer „Liebeserklärung an die Demokratie“: „Die Wahl ist eines der größten Geschenke, das wir haben – wollen wir dieses Privileg abgeben?“, so Friedman. Für das „Recht auf Verzweiflung“ plädiert wiederum Dr. Navid Kermani- laut ihm der Grund dafür etwas zu ändern.
Der weitere Diskurs widmete sich dem Thema, das den Abend der Veranstaltung maßgeblich mitprägte: Trumps Wiederwahl zum Präsidenten und die Phänomenologie autoritärer Bewegungen. Michel Friedman stellte sich dabei die Frage, ob wir im Blick auf antidemokratische Prozesse beispielsweise in Ungarn oder in den Niederlanden „wirklich hilflos“ sind. Seiner Auffassung zufolge braucht es „leidenschaftliche Demokraten“, die „die Demokratie nicht in die Hände der Antidemokraten geben“. Navid Kermani vertritt die These, die liberale Demokratie wieder „überzeugender zu machen“, um dabei nicht tatenlos auf die antidemokratische Gefahr zu blicken, sondern für demokratische Überzeugungen einzustehen.
Die europäische Komponente, die Rolle junger Menschen sowie das politisch-medial instrumentalisierte Spiel zwischen Wahrheit und Lüge waren weitere Themenkomplexe, die die Diskussionsrunde bestimmten. Falschmeldungen werden laut Münch so oft wiederholt, bis sie geglaubt werden. Zuversicht machen trotz der bedrohlichen und komplex verflochtenen Welt, in der wir leben, die Worte Navid Kermanis: „Niemand hat an Deutschland geglaubt, aber jetzt leben wir in einer stabilen Demokratie“. Eine Situation, die dem Intellektuellen zufolge, nach dem Krieg am „unwahrscheinlichsten“ war. Mit den drei Grundsätzen Zarathustras „Denke gut, rede gut, handle gut“ in persischer Sprache, beendete Moderatorin Natalie Amiri eine Podiumsdiskussion, die Augen öffnete, neue Perspektiven schenkte und beunruhigende politische Prozesse einzuordnen vermochte – an einem Abend, dessen Ausgang unser Leben in Europa und auch in Deutschland stark beeinflussen wird.